Schienenpersonenfernverkehr in Europa: Absturz in die Bedeutungslosigkeit?
Autor: Karlheinz Rößler
Schienenpersonenfernverkehr in Europa:
Absturz in die Bedeutungslosigkeit?
veröffentlicht in der Zeitschrift SCHIENE 3/1999, S. 14-30
(Teil I)
SCHIENE 5/1999, S. 18-31 (Teil 2);
beide Hefte können bestellt werden bei: Joachim Seyferth Verlag, Anne-Frank-Straße
23, 65197 Wiesbaden
Auslaufbetrieb oder "Unternehmen Zukunft"
Schienen-Personenfernverkehr in Europa bald bedeutungslos
Ursachenforschung bezüglich des Niedergangs der Eisenbahn notwendig
Fahrpreis und Reisezeit als Entscheidungs-Kriterien
Zu hohe Fahrpreise als Hauptursache des Niedergangs der Eisenbahn im Personen-Fernverkehr
Fahrweg für Schienen-Personenfernverkehr zu kostenaufwendig
Reisezeit-Vorteile gegenüber Auto und Flugzeug nur bei 150 bis 350 km Distanz
Deutscher Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsverkehr zu langsam
Heute längere Fahrtzeiten Berlin - Ruhrgebiet als vor 60 Jahren
Nur rudimentäres Hochgeschwindigkeits-Netz der Eisenbahn in Deutschland
Wichtige Urlaubsgebiete ohne Anschluß an Eisenbahn-Schnellfahrstrecken
Sogar Ballungsräume von Schnellfahrstrecken abgehängt
weiter mit:
Teil II: Lösungsvorschläge
Inzwischen ist ein europaweites Netz für den schnellen Schienenverkehr geplant. Vor
allem Politiker, aber auch Vertreter der nationalen Bahnverwaltungen, der Schienen-Fahrzeugindustrie
und großer Baufirmen haben schon die Visionen von ICE-Zügen Stockholm - Rom, von
einer Eurostar-Verbindung London - Athen oder gar von einer TGV-Linie Paris - Moskau,
wie dies im Herbst 1998 beim Weltkongreß EURAILSPEED in Berlin zu erleben war. Von
der Eisenbahn als Auslaufbetrieb ist nichts mehr zu spüren, vielmehr gilt der
schnelle Schienen-Fernverkehr geradezu als Symbol für den Fortschritt.
Für das jetzige Vierteljahrhundert von 1995 bis 2020 sagt eine von holländischen Wissenschaftlern im Auftrag der Europäischen Kommission erarbeitete Studie einen weiteren Rückgang des Eisenbahn-Marktanteils voraus: Nur noch 5% aller Personen-Verkehrsleistungen in Europa sollen 2020 von Zügen erbracht werden (siehe Tab. 2). Dieser Abwärtstrend wird durch die aktuelle Entwicklung in Deutschland bestätigt. So betrug der Anteil der Eisenbahn an den Verkehrsleistungen im Personenverkehr 1998 in Deutschland gerade noch 6,6% , nachdem er 3 Jahre zuvor noch 7% (siehe oben) erreicht hatte.
Bei der genannten europaweiten Prognose ist sogar berücksichtigt, daß bis 2020 alle geplanten Eisenbahn-Schnellfahrstrecken in Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, Skandinavien, Großbritannien, Belgien, Holland, Österreich und in der Schweiz inkl. aller geplanten Tunnels in den Alpen und unter den Meerengen zwischen Ost- und Nordsee fertiggestellt sein werden; ohne diese Strecken- und Tunnel-Projekte würde der Zugverkehr im Vergleich zum Auto-, Flug- und Omnibusverkehr vermutlich noch schlechter abschneiden. Seltsamerweise findet diese alarmierende Prognose weder in der verkehrspolitischen noch in der verkehrswissenschaftlichen Diskussion eine nennenswerte Beachtung, weil sie vermutlich die Träumereien von der großen Zukunft der europäischen Eisenbahnen zu sehr stört.
Wenn man bedenkt, daß der Schienen-Personenverkehr rund die Hälfte seiner Leistungen im Nah- und Regionalverkehr erbringt, so kommt der Verkehr mit ICEs, Intercitys, Interregios, Expreß- und anderen Fernzügen auf einen Anteil von weniger als 3% . am wachsenden Markt des Personen-Fernverkehrs.
Während erkannt wurde, daß der Schienen-Personen-Nahverkehr in allen dicht besiedelten Region Europas unverzichtbar ist, droht der Schienen-Personen-Fernverkehr (im folgenden abgekürzt: SPFV) zu einem reinen Nischenprodukt zu werden, das allenfalls Marktchancen in einigen wenigen hoch belasteten Verkehrskorridoren hat, z.B. London - Paris, London - Brüssel, Paris - Brüssel - Amsterdam, Ruhrgebiet - Köln - Frankfurt - Stuttgart, Paris - Lyon - Marseille oder Mailand - Florenz - Rom - Neapel.
Dabei soll das geplante europäische Hochgeschwindigkeits-Netz für Züge wie TGV, Eurostar,
Thalys, AVE, ICE, X2000 und ETR 500 vor allem dazu dienen, möglichst viel Personenverkehr
vom Flugzeug auf die Bahn zu verlagern. Doch dieses Ziel wird trotz Milliarden-Investitionen
in neue Bahntrassen vollkommen verfehlt: Bis 2020 wird der Marktanteil des Flugverkehrs
in Europa auf 16% angesteigen und der Anteil des SPFV auf unter 3% gefallen sein.
Das bedeutet, daß zukünftig der Marktanteil des Flugverkehrs in Europa über fünfmal
so groß sein wird wie der SPFV-Anteil, obwohl bei den Prognosen für das Jahr 2020
die Fertigstellung des europäischen Eisenbahn-Schnellfahrnetzes vorausgesetzt wird.
Der stürmisch wachsende Markt des Personen-Fernverkehrs in Europa wird somit
bis 2020 fast vollständig unter den Verkehrsträgern Auto und Flugzeug aufgeteilt.
Die Eisenbahn droht somit den Konkurrenzkampf endgültig an den Straßen- und
Luftverkehr zu verlieren, und dies trotz der Hochgeschwindigkeits-Züge. Mit rund
50jähriger Verspätung wird somit in Europa Anfang des kommenden Jahrhunderts genau
das eintreten, was die USA und Kanada bereits in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts
erlebten: Personenzüge für den Fernverkehr werden in weiten Teilen unseres Kontinents
verschwinden.
Das heutige Angebot der Eisenbahnen in Europa entspricht nur unzureichend den Wünschen und Erwartungen der Kunden an Verkehrsmittel im Fernverkehr, während Auto und Flugzeug diese Kunden-Bedürfnisse erfüllen.
Im Teil II werden dann mögliche Lösungen vorgestellt.
Im europaweiten Verkehr ist das Fliegen in der Regel wesentlich billiger als die Bahnfahrt. So bietet zum Beispiel die Lufthansa Linienflüge von München nach London und zurück für nur 149,-- DM und die Fluggesellschaft GO, eine Tochtergesellschaft von British Airways, für 149,50 DM an , zuzüglich Flughafen- und Sicherheitsgebühren. Dagegen kostet die Rückfahrkarte für die Bahnstrecke München - London selbst mit BahnCard 430.-- DM, wobei die teuren Zuschläge für den ICE bis Köln, für den Thalys Köln - Brüssel und für den Eurostar Brüssel - London ebenfalls noch nicht berücksichtigt sind. Vom weitaus höheren Preis abgesehen, hat die Bahnbenutzung noch weitere Nachteile: (1) Die Zugfahrt dauert 10 Stunden länger als der Flug. (2) Man muß unterwegs dreimal umsteigen (in Mannheim, Köln und Brüssel), während die Flüge direkt erfolgen. (3) Tagsüber gibt es überhaupt nur drei Umsteige-Verbindungen mit dem Zug von München nach London, wenn man weder Nachtfahrten unternehmen noch kurz nach 5 Uhr morgens mit dem ersten ICE starten will; dagegen werden täglich bis zu 18 Non-Stop-Flüge München - London angeboten.
Der SPFV war bis in die 70er Jahre eine Domäne der einkommensstarken Bevölkerungskreise, die nicht nur das Geld, sondern auch die nötige (Frei-) Zeit zum Reisen hatten oder aus beruflichen Gründen ständig weite Strecken zurücklegten, insbesondere Politiker, Geschäftsleute oder Künstler. Für diese Fahrgäste führten die schnellsten Fernzüge auch nur die 1. Wagenklasse, wie z.B. die TEE-Züge. Für die breite und finanziell schlechter gestellte Masse der Bevölkerung kamen hingegen Reisen über größere Distanzen - als Urlaubsreise, Wochenends- oder Tagestour - erst allmählich in Frage, und zwar mit zunehmender Urlaubs- und Freizeit und zugleich wachsendem Einkommen. Aber das Preisniveau der genannten Züge war für diesen beginnenden Massenmarkt viel zu hoch. Folgerichtig standen die modernen, schnellen Personen-Fernzüge, die seit Ende der 70er bis Anfang der 90er Jahre den Betrieb aufnahmen - beispielsweise der deutsche IC und ICE wie auch der französische TGV - von Anfang an für das 2.-Klasse-Publikum offen.
Doch dieser Schritt in die richtige Richtung ging nicht weit genug, denn das Fahrpreis-Niveau
ist, verglichen mit Pkw und Bus, immer noch zu hoch. Besonders für Familien
ist es wesentlich preisgünstiger, mit dem eigenen Auto statt mit dem Zug zu reisen,
vom bequemeren Gepäcktransport ganz abgesehen. Einen Reiseomnibus oder ein
Charterflugzeug zu benutzen, vor allem in Kombination mit einem vom Reiseveranstalter
vermittelten Hotelzimmer, ist unschlagbar billig. Als preislich konkurrenzfähiges
Angebot im Schienenverkehr fehlt somit die 3. Klasse, die bereits in den 50er Jahren
bei fast allen großen europäischen Eisenbahnen abgeschafft worden war. Diese
Marktlücke wurde vom Auto, Omnibus und Flugzeug weitgehend besetzt, so daß der
SPFV den eigentliche Massenmarkt fast vollständig verlor und dadurch nur noch einen
marginalen Marktanteil am Personen-Fernverkehr besitzt.
Um die Fahrwegkosten im Personen-Fernverkehr auf Schiene und Straße vergleichen zu können, sollen die Investitionskosten für folgende Verkehrswege modellhaft betrachtet werden:
(1) die im Bau befindliche Eisenbahn-Neubaustrecke Köln - Rhein/Main, auf der voraussichtlich
5 ICE-Linien sowie zusätzliche Sprinter-Züge verkehren sollen
(2) die sanierte und modernisierte Eisenbahn-Altstrecke Hamburg - Nauen (-Berlin)
mit heute rund 30 IC-Zügen pro Tag
(3) die geplante Eisenbahn-Neubaustrecke (Erfurt -) Traßdorf - Ebensfeld mit knapp
50 IC- bzw. IR-Zügen pro Tag
(4) die im Bau befindliche Autobahn-Neubaustrecke Magdeburg - Halle, die über 4 Fahrspuren
sowie beidseitig je eine Standspur verfügen wird.
Für diesen Vergleich von Eisenbahn und Autobahn werden die Investitionskosten pro Streckenkilometer unter Berücksichtigung von Abschreibungen und Zinsen auf den einzelnen Fahrgast umgelegt, der den betreffenden Verkehrsweg benutzt (siehe Tab. 3). Die Kosten der Eisenbahn-Neubaustrecke Köln - Rhein/Main, welche zukünftig die wichtigste Strecke für den SPFV in ganz Deutschland sein wird, liegen mit 0,16 DM um den Faktor 8 höher als bei der im Bau befindlichen Autobahn A 14 von Magdeburg nach Halle, deren Fahrwegkosten nur 0,02 DM pro Kilometer und Fahrgast betragen. Aufgrund ihrer Belastung mit 40.000 bis 60.000 Kraftfahrzeugen pro Tag wird die A 14 eine für Deutschland typische, durchschnittlich belastete Autobahn sein.
Auch die Investitionskosten für den Streckenabschnitt von Hamburg bis Nauen als Teil der Bahnverbindung Hamburg - Berlin sind je Streckenkilometer und je Fahrgast um den Faktor 8 höher als bei der A 14 und liegen ebenfalls bei 0,16 DM je Kilometer und Fahrgast (siehe Tab. 3). Dies ist umso überraschender, als die Bahnlinie zwischen Hamburg und Nauen nach der deutschen Wiedervereinigung lediglich saniert und modernisiert wurde, nachdem diese Maßnahmen während der DDR-Zeit, anders als bei vergleichbaren Strecken in Westdeutschland, 40 Jahre lang unterblieben waren.
Besonders ungünstig wäre das Verhältnis der Fahrwegkosten von Eisenbahn und "Durchschnitts-Autobahn", falls die geplante Neubaustrecke Erfurt - Ebensfeld über den bereits im Bau befindlichen Abschnitt bis Traßdorf hinaus komplettiert würde: Auf dieser zu rund zwei Dritteln aus Tunnels und Brücken bestehenden Bahntrasse durch das Mittelgebirge Thüringer Wald wird in jeder Richtung lediglich ein ICE-Zug pro Stunde und alle zwei Stunden ein InterRegio verkehren. Diese neue Linie ist für Güterzüge kaum nutzbar und wird aus Kapazitätsgründen für den Güterverkehr gar nicht benötigt . Deshalb müssen die Fahrwegkosten der 76 Streckenkilometer von Traßdorf bis Ebensfeld allein dem SPFV zugerechnet werden: Sie betragen 0,62 DM je Kilometer und Fahrgast und sind somit um den Faktor 31 höher als bei der A 14 (siehe Tab. 3).
Die genannten Fahrwegkosten von 0,16 DM, die für jeden Fahrgast auf jedem Kilometer
Strecke zwischen Köln und dem Rhein/Main-Gebiet sowie zwischen Hamburg und Nauen
anfallen, entsprechen gerade den Erlösen, welche die DB AG aus dem Verkauf der
Fahrkarten durchschnittlich pro Kilometer Fahrstrecke erzielen kann. Bei diesen
Erlösen bleibt somit kein Geld mehr übrig für die Anschaffung und Wartung der
Züge, für das Personal und für sonstige Betriebs-und Verwaltungskosten. Dies gilt
umso mehr für den Streckenabschnitt von Traßdorf bis Ebensfeld mit seinen Fahrwegkosten
von 0,62 DM pro Fahrgast und Kilometer. Durch diese extrem unwirtschaftliche
Neubaustrecke würde der SPFV endgültig den Konkurrenzkampf gegen den kostengünstigeren
Straßenverkehr und erst recht gegen den Flugverkehr verlieren, zumal letzterer praktisch
keine Fahrwegkosten hat.
Die Luftlinien-Distanz, innerhalb derer die Eisenbahn überhaupt Marktchancen hat,
kann im Einzelfall noch kleiner als 150 bis 350 km sein, aber auch größer. Dies
hängt wesentlich von individuellen Verhältnissen und Vorlieben, von der Verkehrs-Situation,
von örtlichen Gegebenheiten und davon ab, wie gut ein Fernbahnhof oder Flughafen
mit Zubringer-Verkehrsmitteln erschlossen bzw. sogar zu Fuß erreichbar ist.
So ist beispielsweise der Eurostar im Konkurrenzkampf mit dem Flugzeug sehr erfolgreich,
obwohl dieser Zug für die rund 350 km lange Luftlinie Paris - London fast 3 Stunden
benötigt und somit nur eine Durchschnittsgeschwindigkeit von maximal 120 km/h erreicht.
Dieser Vorsprung des Zuges vor dem Flugzeug kommt vermutlich gerade dadurch zustande,
daß die Flughäfen von Paris und London extrem peripher liegen. Sollte allerdings
der schnelle Heathrow-Express, der zur Zeit auf einer allersten Linie zwischen
London-Paddington und dem Flughafen London-Heathrow verkehrt, ein flächendeckendes
Netz in ganz London erhalten, wäre es wohl mit dem Reisezeit-Vorsprung des Eurostars
vorbei. Durch ein ähnliches Flughafen-Express-System in Paris würde wohl auch
der TGV einen Großteil seiner Fahrgäste (wieder) an den Flugverkehr verlieren.
Die Tatsache, daß der französische TGV und der britisch-französische Eurostar
ausgerechnet dem sehr viel schnelleren Flugzeug nennenswerte Marktanteile abjagen
konnten, könnte somit als Episode in die Geschichte eingehen.
Der drastische Geschwindigkeits-Unterschied zwischen französischen und deutschen Schnellfahrstrecken ist darauf zurückzuführen, daß die TGV-Züge in Frankreich auf ihren neuen Gleisen durchgängig mit der Höchstgeschwindigkeit verkehren, während auf deutschen Schnellstrecken die ICE-Züge nur in relativ kurzen Bereichen richtig schnell sind und selbst nicht einmal hier ihre technisch mögliche Geschwindigkeit ausfahren können. Gerade an der erst Ende des letzten Jahre eingeweihten Bahnlinie Hannover - Oebisfelde - Berlin kann dies besonders deutlich gezeigt werden:
Während die Fahrzeiten der Konkurrenz-Verkehrsmittel Auto und Reiseomnibus in den
letzten 60 Jahren ständig kürzer wurden, nicht zuletzt durch ein immer dichteres
Netz von Hochgeschwindigkeits-Straßen, und während das Flugzeug, das einzige echte
Hochgeschwindigkeits-Verkehrsmittel (Höchstgeschwindigkeit: rund 900 km/h),
inzwischen den Verkehrsmarkt mit großem Erfolg erobert, liegen die Fahrzeiten des
deutschen SPFV in fast allen Relationen ungefähr auf dem Niveau, das 1939 schon
einmal erreicht war. Nicht zu Unrecht wird das deutsche Hochgeschwindigkeits-System
der Eisenbahn, das mit einem Milliarden-Aufwand realisiert wird, in der wissenschaftlichen
Literatur als das teuerste und langsamste der Welt bezeichnet .
In Deutschland bestehen, völlig unzusammenhängend, insgesamt rund 1.300 km Bahnstrecken, auf denen Geschwindigkeiten von mindestens 200 km/h möglich sind. Hinzu kommen knapp 2.000 km Schnellfahrstrecken, die sich im Bau befinden oder nach dem immer noch gültige Bundesverkehrswegeplan aus dem Jahr 1992 (BVWP'92) geplant sind (siehe Abb. 1). Zum Vergleich: Die Autobahnen in Deutschland haben bereits heute eine Gesamtlänge von über 11.000 km und rund weitere 2.300 km Strecke sind im Bau oder zumindest im "Vordringlichen Bedarf" des BVWP'92 enthalten (siehe Abb 2). Dieser Längenzuwachs im Autobahnnetz ist also weitaus größer als der Zuwachs an Bahnstrecken für Tempo 200 und mehr. Noch unberücksichtigt sind hierbei alle 4-spurigen Schnellstraßen, die nicht als Autobahnen deklariert sind, sondern "nur" als Bundes- oder Staatsstraßen. Im Endzustand wird somit ein lückenloses Straßen-Hochgeschwindigkeits-Netz von mehr als 13.300 km Länge dem weiterhin äußerst lückenhaften Eisenbahn-Hochgeschwindigkeits-Netz mit lediglich rund 3.200 km Strecke gegenüber stehen, was ein Konkurrenz-Verhältnis von 4 : 1 zugunsten der Straße ergibt.
Indem sich die wenigen schnellen Bahnstrecken in Deutschland auf die Verbindung einiger Ballungszentren beschränken und die genannten Urlaubs- und Ausflugsgebiete ohne ICE-Bahnhöfe sind und bleiben sollen, verspielt die Eisenbahn eine große Marktchance an das Auto und zunehmend auch an das Flugzeug.
Diese Aussage steht keineswegs im Widerspruch zu der Tatsache, daß z.B. täglich einmal
(!) ein direkter IC-Zug zwischen dem Ruhrgebiet und dem Allgäu verkehrt. Denn
mit einer Fahrzeit von 7 h 58 min für die 495 km lange Distanz von Dortmund
nach Oberstdorf erreicht dieser Fernzug nur eine Luftlinien-Geschwindigkeit von
62 km/h und liegt somit deutlich unter dem Geschwindigkeits-Niveau einer vergleichbaren
Autofahrt.
Dieser Verdichtungsraum ist mit dem Regional-Flughäfen Altenburg und Hof auch an den Luftverkehr angebunden und verfügt über ein dichtes Netz von Autobahnen, das weiter ausgebaut wird: Im Korridor Erfurt - Gera - Chemnitz wird die Autobahn A 4 zur Zeit auf 6 Fahrspuren erweitert und teilweise sogar neu trassiert (geringerer Steigungen, größere Kurvenradien); dasselbe gilt für die Autobahn A 9 Berlin - Nürnberg, die am Hermsdorfer Kreuz westlich Gera die A 4 schneidet. Hinzu kommen die erst nach der Wende modernisierte bzw. völlig neu gebaute Autobahn A 72 von Dreieck Bayerisches Vogtland über Hof und Zwickau nach Chemnitz sowie die im Bau befindliche A 93, die südlich Plauen von der A 72 abzweigt und eine direkte Verbindung nach München und Passau über Regensburg schafft (siehe Abb. 2).
Zwar fehlt dem Unterland in Baden-Württemberg der Direktanschluß an den Flugverkehr, aber umso besser ist die Erschließung im Straßen-Hochgeschwindigkeitsverkehr: Die Autobahnen A 6 und A 81 von Heilbronn nach Mannheim und Stuttgart haben bereits 6 Fahrspuren; zusätzlich fordern Politiker und Wirtschaftsvertreter den 6-spurigen Ausbau auch des Abschnitts Heilbronn - Nürnberg, der zeitweilig an die Kapazitätsgrenzen seiner 4 Fahrspuren stößt.
In vollem Gegensatz zu dieser hervorragenden Autobahn-Anbindung ist für den Schienenverkehr in beiden Regionen laut BVWP'92 nur geplant, die bestehenden Altstrecken technisch zu sanieren und zu modernisieren, auch wenn diese aus dem 19. Jahrhundert stammenden Trassen wegen der Vielzahl sehr enger Kurven für einen konkurrenzfähigen SPFV vollkommen ungeeignet sind. Vorschläge für den Bau von echten Hochgeschwindigkeits-Strecken zur Erschließung beider Großräume werden von Vertretern aus Politik und Wirtschaft wie auch von der DB AG meistens mit dem Argument abgetan, mit den hier bereits verkehrenden Zügen fahre doch fast niemand und somit sei erst recht kein Bedarf für neue, schnelle Bahnverbindungen vorhanden.
Wenn man allerdings die Fahrzeiten und das heutige Geschwindigkeitsniveau auf den betreffenden Bahnstrecken betrachtet (siehe Tab. 6), findet man sofort auch die Erklärung für die äußerst mangelhafte Nachfrage im Schienen-Personenverkehr. In keiner der in der Tabelle 6 genannten Relationen ist die Luftlinien-Geschwindigkeit höher als 62 km/h. Hierbei stellt die Verbindung zwischen den benachbarten Goßstädten Gera und Zwickau den Langsamkeits-Rekord dar: Mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von nur 26 km/h wird kaum mehr als Fahrradtempo erreicht. Erschwerend kommt bei dieser "Niedrigst-Geschwindigkeitsbahn" hinzu, daß es gar keine durchgehende Fahrtmöglichkeit gibt. Vielmehr muß man zwischen Gera und Zwickau unterwegs mindestens einmal umsteigen.
Da jedoch das hochwertige Autobahnnetz in den Räumen Gera-Plauen-Zwickau-Altenburg-Chemnitz
und Heilbronn voll ausgenutzt wird, ist der Beweis erbracht, daß innerhalb dieser
beiden Regionen, aus ihnen heraus bzw. in sie hinein tatsächlich große Verkehrsströme
fließen. Bei einer Anbindung an das Hochgeschwindigkeits-Netz der Eisenbahn könnte
ein Großteil dieses Verkehrs zukünftig mit Personen-Fernzügen abgewickelt
werden - wesentlich umweltverträglicher als mit Autos.